Schule und Wohnen für Kinder und Jugendliche

Steter Tropfen höhlt den Stein – oder so?

Sarah Wettler, Gruppenleiterin - Wohngruppe Milan, berichtet über eine aussergewöhnliche Entwicklung eines Jugendlichen.

Datum
27. Oktober 2020

Ich blicke ins Gesicht eines Jugendlichen, sein Blick ist offen, mir zugewandt, er strahlt. Ich strahle zurück und frage mich gleichzeitig, wann ich ihn vorher jemals so fröhlich erlebt habe. Ich weiss es nicht, vielleicht ist heute das erste Mal.

Den betreffenden Jugendlichen begleite ich seit ungefähr 2.5 Jahren. Er hatte keinen angenehmen Start in das Leben auf der internen Wohngruppe. Er verstand nicht, warum er mitten im Schuljahr die Schule wechseln musste, warum er plötzlich im Heim, auf einer Wohngruppe leben sollte, warum er Regeln befolgen sollte, sich anpassen. Er hatte viele Fragen und viel Wut in sich.

An jedem Standortgespräch erhoffte er sich, dass er nun endlich als externer Schüler zu Hause würde wohnen können. Und an jedem Standortgespräch wurde diese Hoffnung zerschlagen. Er ging durch viele Tiefs, war oft geschüttelt von Trauer und Frust. Immer wieder versank er in negativer Stimmung, konnte nicht gegen seine Emotionen ankämpfen, war ihnen ausgeliefert, hilflos, ohnmächtig.

Als Team investierten wir ihn in. Wir liessen nicht locker, liessen ihn aber auch nicht los. Wir waren überzeugt, dass er am richtigen Platz ist, dass er lernen, profitieren, wachsen kann.

Und heute strahlt er mich an. Er lacht mir ins Gesicht und ich weiss, dass das was ich da sehe, Freude ist. Seit drei Monaten ist er fröhlicher, offener, zufriedener. Er lacht öfter, er hat Ideen und setzt diese um. Vor dem Standortgespräch wird erneut das Thema externer Schüler angesprochen. Es ist immer noch nicht möglich. Aber er versinkt nicht in Frust, Trauer und Wut. Er akzeptiert, argumentiert und sagt, dass er weiss, warum er hier sein soll. Dass er weiss, was er noch lernen kann. Dass er weiss, wovon er profitieren kann. Dass er denkt, dass er im Heim, auf der Gruppe am richtigen Ort ist.

Seit seinem Eintritt sind 2.5 Jahre vergangen, bis zu seinem Austritt werden es noch ähnlich viele. Halbzeit also. Halbzeit, Pause, durchatmen und erkennen, dass man den Rest auch noch schaffen kann. Gelegenheit, um zurückzublicken, Fortschritte anzuerkennen und zu merken, dass so manches geflügeltes Wort wohl doch ein Stück Wahrheit verbirgt. Steter Tropfen höhlt den Stein.

Zeit aber auch, sich zu wappnen für das, was noch kommt. Denn in der Arbeit mit Menschen, mit Kindern und Jugendlichen, ist auch klar, so wie es jetzt gerade ist, wird es nicht bleiben.
Und dennoch: So wie der Einzelne von vielen Tropfen, die den Stein höhlen, dies nicht offensichtlich tut, so finden auch Entwicklungsschritte oft im Verborgenen statt und offenbaren sich erst mit dem Blick zurück.